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LANUs erkunden den wilden Osten


In ihrem zweiten Semester stand für alle, die Landschaft nutzen und Natur schützen wollen, eine einwöchige Auslandsexkursion auf dem Programm. Kurz vor Beginn des Prüfungszeitraums packten 19 LANUs ihre Taschen, Rucksäcke oder Koffer und machten sich auf eine Reise in den äußersten Osten Polens.

In sechs Tagen machten wir eine Grenzerfahrung, trafen die größten europäischen Megaherbivoren, durchquerten eine Aue, zwei Moore, einen Urwald, fuhren Fahrrad, Bus und Kanu und lernten, uns auf polnisch zu bedanken.


Tag 1 // Niedziela


Am Sonntagvormittag ging es gemeinsam mit Dr. Jens Möller und Prof. Dr. Rüdiger Schultz-Sternberg von Frankfurt-Oder aus los. Die nächsten fünf Stunden verbrachten wir in gemütlichen Abteilen der Bahn, die Richtung Warschau bummelte.

Jenseits der Oder werden die Felder kleiner, die Knicks mehr, oft steht Hafer auf den Äckern, Häuser verstreut in der Landschaft.

Am Bahnhof in Warschau erwartete uns schon ein Bus, der uns noch einmal über 200 Kilometer weiter nach Osten brachte.

Spät am Abend erreichten wir das Dorf Białowieża, kurz vor der weißrussischen Grenze; eine Lichtung inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes. Den legendären Urwald von Białowieża konnten wir an diesem Tag in der Dunkelheit nur erahnen.

Die Gastfamilie unserer Unterkunft erwartete uns schon und hatte uns trotz der späten Stunde noch eine leckere Suppe und Piroggen mit Pilzfüllung auf den Tisch gezaubert.


Tag 2 // Poniedziałek


Gleich nach dem Frühstück schwang sich die Gruppe auf geliehene Fahrräder und radelte aus dem Dorf heraus, vorbei an Wiesen und Ackerflächen bis in den Wald.

Unser Begleiter Przemek Bielicki erklärte, dass die Besitzer der Felder EU-Förderungen erhalten, wenn sie bestimmte Mahdtermine abwarten, sodass hier stark bedrohte Wiesenbrüter wie der Wachtelkönig immer noch ihre Rufe ertönen lassen.

Der Wald, den wir durchfuhren, wird zwar wirtschaftlich genutzt, wirkte aber viel naturnäher als brandenburgische Forste. Was uns auffiel: Die Rotbuche fehlt; wir haben so weit im Osten ihr natürliches Verbreitungsgebiet bereits verlassen. Stattdessen konkurrieren mehr Eichen, Hainbuchen und Linden ums Sonnenlicht.

Nach wenigen Kilometern Fahrt mussten wir absteigen, es ging nicht mehr weiter. Mitten durch den Wald verläuft die EU-Außengrenze zu Weißrussland. Wir standen vor Warnschildern und Stacheldraht, wurden videoüberwacht. Der Grenzstreifen, auf dem Schmetterlinge in der Sonne herumgaukeln, trennt nicht nur Länder und Menschen, sondern auch zwei Wisentpopulationen voneinander. Von diesen Wildrindern, die in Europa bereits ausgerottet waren und in wenigen naturnahen Wäldern wieder angesiedelt werden konnten, gibt es in Polen heute etwa 500 Individuen. Auf der weißrussischen Seite sind es um die 600, die niemals mit ihren polnischen Artgenossen aufeinandertreffen.

Später, auf dem Weg zu einer Vegetations- und Bodenaufnahme auf Przemeks eigenem Acker sahen wir auch schon eines unserer größten faunistischen highlights der Reise: Ein Wisentbulle lag dösend etwa hundert Meter entfernt vom Feldweg auf einer Wiese und ließ sich von uns gar nicht stören.

Einige Mutige gingen abends noch einmal allein auf Wisent-Pirsch… Zunächst trafen sie keins der Tiere, dann versperrten ihnen in der Dunkelheit gleich mehrere Wildrinder den Rückweg ins Dorf. Erst über einen Umweg gelangen sie zurück in unsere Unterkunft.

Nach dem Abendbrot dort erkundeten wir das Dorf noch ein wenig zu Fuß, denn wir waren zu einem Vortrag des Mammal Research Institute eingeladen. Hier erfuhren wir zum Beispiel, dass der Wisent wie viele großen Pflanzenfresser ein wichtiger Samenverbreiter ist. Da er in europäischen Wäldern größtenteils verschwunden ist, ist auch die Vermehrung verschiedener Pflanzen eingeschränkt. Vielleicht wären seltene Arten viel dominanter, wenn das Wildrind noch (oder wieder) in allen europäischen Waldgebieten leben und ihre Samen über seinen Kot verbreiten würde?

So merkten wir einmal wieder, dass wir gar nicht abschätzen können, welche Folgen das Fehlen einer einzigen Art auf ein ganzes Ökosystem hat.


Tag 3 // Wtorek


Auf in den Urwald von Białowieża! Bevor die Sonne zu heiß vom Himmel brannte, stiefelten wir los,  geführt von Ewa Zin und wieder begleitet von Przemek, denn die Kernzone des Białowieża-Nationalparks dürfen pro Führer nur 20 Besucher betreten (und wir waren 21).

Nach dem obligatorischen Gruppenfoto am Eingangstor durften wir den Wald kennenlernen, der schon seit 1921 streng geschützt ist; Polens ältester Nationalpark, an den das gleichnamige Dorf grenzt. Hier steht der Prozessschutz an erster Stelle. Bäume dürfen wachsen, altern und vergehen,  wie sie es seit jeher in der Natur tun. Kein Stamm wird entnommen, sodass der Totholzanteil stellenweise über 50 Prozent beträgt, zehnmal mehr als in typischen europäischen Wirtschaftswäldern. Erst mit dem Ersten Weltkrieg begann in Białwieża überhaupt eine verstärkte Holznutzung, sodass vorher über Jahrzentausende ungestört natürliche Prozesse ablaufen konnten. An kleinen Lichtungen war die Kraut- und Strauchschicht sehr üppig, dann ragten wieder meterdicke Eichenstämme auf. Buchfinken sangen irgendwo in den Baumkronen, wir beobachten ein Eichhörnchen, verschiedene Schmetterlinge, Spechtschmieden und ein Zaunkönignest. Soweit man schaute, man sah keinen Waldrand, kein Durchschimmern von angrenzenden Offenflächen. Das Blätterdach über uns war dicht und dämpfte das Sonnenlicht.

Der Wald verbreitet seine eigene, besondere Stimmung, die man weder wirklich beschreiben noch auf Bildern festhalten kann. Nur die erstaunlich breiten Wege und Holzstege für die jährlich 150.000 Besucher des UNESCO-Weltnaturerbes erinnerten daran, dass wir doch nicht die ersten Menschen waren, die unter diesen Bäumen hindurch liefen.

Kurz vor Ende unserer Wanderung durch den Nationalpark entdeckten wir einen blass pinkfarbenen Auswuchs an einem vermodernden Baumstamm. Ewa erklärte, dass dieser Rosarote Baumschwamm extrem selten sei, da er nur auf totem Fichtenholz in der ersten Zerfallsphase lebt. In Naturwäldern wäre er eigentlich recht häufig, aber welcher Förster lässt sein Fichtenholz schon freiwillig absterben und verrotten?

Diesen Pilz soll übrigens eine Motte als Brutstätte nutzen, die wiederum von einer parasitären Fliege befallen wird. Wie verbreitet diese Arten durch die Seltenheit des Baumschwammes noch sind, kann man sich vorstellen…

Am Abend nach unserer Urwaldbesichtigung durften wir Ewa gleich noch bei einem Vortrag über Dendrochronologie und die Bedeutung von Waldbränden lauschen. Zu den natürlichen Prozessen im Wald gehört nun mal ab und zu ein Feuer. Heute muss jedoch auch im Nationalpark jeder Brand der Feuerwehr gemeldet werden und wird möglichst bald gelöscht. Das soll Szenarien wie im Jahr 1811 verhindern, als der Białowieża-Urwald monatelang gebrannt haben soll.

Regelmäßige Feuer würden jedoch ebensolche Katastrophenbrände verhindern, da sie potentielles Brennmaterial ja „wegfressen“. Sie würden Regenerationswellen von jungen Bäumen fördern, da die in abgebrannten Waldteilen leichter aufwachsen können. Auch die Baumarten wären wahrscheinlich anders verteilt. Vor dem 20. Jahrhundert, als im heutigen Nationalpark noch größere Waldbrände vorkamen, wuchsen dort viel mehr Kiefern; die überstehen Brände oft gut und wachsen schnell nach.

Nicht zuletzt gibt es pyrophile Insekten- und Pilzarten. Sie brauchen verbranntes Holz zum Leben.

Mit soviel neuem Waldwissen klang der Tag aus und wir übernachteten zum letzten Mal auf dieser Fahrt in Białowieża.


Tag 4 // Środa


Heute hieß es Abschied von unserer ersten Unterkunft nehmen. Mit gepackten Taschen stiegen wir in den Bus, mit dem wir den ganzen Tag lang mit längeren Stopps 150 Kilometer Richtung Westen zurücklegten.

In der nächsten Kleinstadt nutzen wir die Gelegenheit, über einen Wochenmarkt zu schlendern. Neben frischem Gemüse und allerlei Obst gab es dort auch eine regionale Besonderheit in Gläser abgefüllt: Wild gesammelte Walderdbeeren! Herr Möller kannte die schon, nahm sich gleich ein Glas mit und ließ die ganze Truppe einmal naschen.

Nach der Besichtigung einer russisch-orthodoxen Kirche  erreichten wir schließlich den Fluss Narew. Der schlängelt sich noch ungehindert in Schleifen durch die Landschaft, natürliche Überschwemmungen sind möglich und in den Mooren der Flussniederung ist die Artenvielfalt faszinierend groß. Wir überquerten einen Teil der Flussaue auf mehreren kilometerlangen Holzstegen. Die Wasserarme, die dazwischenlagen, überquerten wir mit kleinen angeketteten Zugbooten und einer Portion Armmuskelkraft.

Weiter ging es in die Stadt Tykocin, wo wir eine jüdische Synagoge aus dem 17. Jahrhundert besichtigten.

Was unterwegs noch mehr auffiel als schon in Białowieża: Störche! In jedem Dorf gibt es zahlreiche Weißstorchnester. Die Vögel beziehen sie auf Dächern, viel häufiger aber auf den kleinen Strommasten, die hier noch die oberirdischen Leitungen von Haus zu Haus spannen.

Zuletzt ließ uns der Busfahrer an einem Feldweg aussteigen, wo wir in der Abendsonne Bienenfresser beobachten konnten, die immer wieder auf den Stromleitungen Rast machten.

Schließlich erreichten wir unsere zweite Unterkunft in Wizna, direkt am Ufer der Narew.


Tag 5 // Czwartek


Nationalparkführer Artur machte sich an diesem Tag mit uns auf, im Biebrza-Nationalpark ein Nieder- und ein Hochmoor zu erwandern. Ersteres konnten wir zunächst wieder über einen langen Holzsteg betreten. Er verlief schnurgerade mehrere hundert Meter über die morastige Fläche. Möglicherweise zu versinken war also keine Gefahr, allerdings die pralle Sonne auf der Freifläche. So trugen wir kreative Vermummungstechniken zur Schau, um die Sonnenbrände in Grenzen zu halten.

Auf der abschließenden Aussichtsplattform erklärte Herr Schultz-Sternberg uns die Moorböden unter unseren Füßen. Wir erfuhren, dass wir im größten mitteleuropäischen Moor standen, das noch so naturnah ist, dass weiterhin ein natürliches Torfwachstum stattfinden kann.

Währenddessen hielt  Herr Möller Ausschau nach dem Schilf- und dem noch selteneren Seggenrohrsänger.

Nachdem wir einige besonders auffällige floristische Kuriositäten (wie Sumpfblutauge und Hain-Wachtelweizen) bestimmt hatten, liefen wir noch einige Kilometer durch einen trockeneren Teil des Moorrandes – und direkt in ein Gewitter hinein. Das zog glücklicherweise bald an uns vorbei. Der Regen, der folgte, konnte uns natürlich nicht aufhalten. Artur führte uns weiter in ein Hochmoor, das (an Tagen wie diesen) also nur vom Regenwasser gespeist wird. Unter den Birken wuchsen Sumpfporst und Rauschbeere. Deren blaue Beeren sind zwar essbar, der starke Geruch der Pflanzen kann Moorausflüglern aber nach einer Weile die Sinne vernebeln.

Auf dem Rückweg hielten wir noch einmal am Holzsteg. Ein Großteil der Gruppe lief mit den Dozenten los, um noch einmal den Seggenrohrsänger zu suchen. Er zeigte sich auch tatsächlich im Schilf! Wer durchnässt vom Regen im Bus geblieben war und diese weltweit vom Aussterben bedrohte Art nicht sah, sah etwas anderes: Eine Elchkuh querte die Straße vor dem parkenden Fahrzeug. So hatten doch alle mindestens eine tierische Begegnung, die sie so schnell nicht vergessen werden.


Tag 6 // Piątek


Der Bus fuhr uns vormittags einige Kilometer flussaufwärts. In Zweierkanus sollten wir zurück nach Wizna paddeln und uns dabei von der Strömung unterstützen lassen – soweit der Plan. Der starke Gegenwind und der Wellengang an diesem Tag machte die Bootsfahrt allerdings zur Kraftprobe. Wer nicht ständig mit dem Ruder durchs Wasser pflügte, wurde gnadenlos zurück getrieben. Mehrere heftige Regenschauer zwischendurch sorgen für eine abwechslungsreiche Tour auf der Narew. Nach über fünf Stunden auf dem und mit Wasser (im Kanu) erreichten auch die letzten Boote wieder unsere Unterkunft. Immerhin hatten wir blühende Mummeln, Höckerschwäne und Seeschwalben beobachten können, und irgendwann sang ein Pirol in einem Kiefernwald am Ufer.

Mit anregenden Diskussionen konnten wir den Tag am Lagerfeuer ausklingen lassen.


Tag 7 // Sobota


Wir nahmen Abschied von unserer Unterkunft am Fluss, von Przemek, Wizna und diesem Fleckchen Erde, auf dem die Natur noch ein bisschen ungestörter und wilder bleiben durfte, wo die Menschen den Dingen gern mal ihren Lauf lassen.

Bei Sonnenschein und 30 Grad fuhr unsere Bahn in Warschau ab. In Berlin war es zehn Grad kälter und ein Regenguss begrüßte uns zuhause.

Wir bedanken uns bei unseren Gastgeber*innen, Busfahrern, Führer*innen sowie Herrn Möller und Herrn Schultz-Sternberg für diese unvergessliche Exkursion!

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