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Studienreise ins untere Odertal

Ein Beitrag von Laura Danzeisen

Was haben ein*e Historiker*in, ein*e Kulturwissenschaftler*in und ein*e Naturschützer*in gemeinsam? Nun, auf den ersten Blick wenig. Der Plan war jedoch, dass das nach drei Tagen gemeinsamer interdisziplinärer Studienreise im deutsch-polnischen Grenzgebiet des unteren Odertals anders aussehen sollte. Gemeinsam mit Małgorzata Murao vom Institut für angewandte Geschichte (Frankfurt/Oder) und dem kulturhistorischen Verein Terra Incognita (Chojna) organisierten Dr. Jana Chmieleski und RUN Absolventin Laura Danzeisen eine Reise, während der die weite Flusslandschaft der Oder als verbindendes Element diente, um das Gestern, Heute und Morgen der Grenzregion rund um Gryfino und Gartz zu entdecken. Zusätzlich sollte diese erste Studienreise als Testlauf dienen, um das Format später als interdisziplinäre Lehrveranstaltung für Studierende der HNEE und polnischer Hochschulen umsetzen zu können.


Die Veranstaltung mit dem offiziellen Titel Vergessene Welten – aktuelle Prozesse: Flusslandschaft, Naturschutz und Wildnisentwicklung im Unteren Odertal lockte über 20 Interessierte aus Polen und Deutschland an, die ganz unterschiedliche persönliche Motivationen für ihre Teilnahme hatten. Die Sprache stellte dank des Sprachtalents unseres Übersetzers Marcin Dziubek keine Barriere mehr dar, so dass uns dauerhaft ein munterer Sprachmix aus Polnisch, Deutsch und Englisch begleitete.


Tag 1 //


Der erste Tag widmete sich der Geschichte und der wirtschaftlichen Situation auf der östlichen, also polnischen Oderseite. Grenzregionen haben oft eine besonders wechselhafte und spannende Geschichte – in Gryfino, das vor 1945 Greifenhagen genannt wurde, ist das nicht anders, wie wir in einer Stadt- und Museumsführung lernten. Nebenbei tasteten sich die Teilnehmenden langsam aneinander ran („Und, was machst du so?“) und fanden erste Gemeinsamkeiten. Und wenn das mit dem Sprechen noch nicht so klappte („Po polsku? English? No?“), wurde erst mal gelächelt.

Aus Naturschutzperspektive folgte ein kontroverser Teil unserer Reise: Eine Führung durch das die Landschaft weithin sichtbar dominierende Steinkohlekraftwerk Dolna Odra, einer der größten Arbeitgeber der Region. Wir erfuhren, dass die Umweltbestimmungen eingehalten, 98 % der Luftschadstoffe gefiltert würden und auch ansonsten keinerlei CO2 durch die Schornsteine entweiche. Gekühlt werden die Maschinen durch das Wasser der Oder, wobei die enormen ökologischen Auswirkungen des aufgeheizten Flusswassers nicht als Problem wahrgenommen wurden.

Niemand hatte vor, sich in Greenpeace-Manier mit einem Anti-Kohle-Banner vom Schornstein abzuseilen, und so verließen wir das Gelände ganz bürgerlich freundlich dankend. Danach erhielten wir jedoch einen spontanen Vortrag von einer Teilnehmerin, die in der Verwaltung der polnischen Landschaftsschutzparks arbeitet und uns von ganz anderen, kritischen Erfahrungen mit dem Kraftwerk erzählte. Der Abschluss des Tages fand in einem schicken Weingut statt, da in der Region nun auch edle Weine angebaut werden. Klimawandel und moderne Pflanzenzucht machen es möglich.


Tag 2 //


Vonseiten der HNEE war ein wichtiges Ziel der Reise, der Studiengruppe die Bedeutung intakter Auenlandschaften näherzubringen, die Arbeit des Nationalpark Unteres Odertal zu erklären und den Stellenwert von Wildnisentwicklung herauszuarbeiten. Tag zwei verbrachten wir deshalb im Nationalparkzentrum Criewen, wo Dr. Michael Tautenhahn das Konzept und die Ziele des Nationalparks vorstellte und über das Schlossgelände führte. Erfreulicherweise erklärte sich eine Vertreterin der polnischen Schutzgebietsverwaltung, Karolina Bloom, ebenfalls bereit, über die Arbeit der dortigen Kolleg*innen zu erzählen.

Doch Natur muss man an erster Stelle erfahren, deshalb durchstreiften wir im Anschluss das Wildnisgebiet des Gartzer Schreys, wobei die Natur- und Landschaftsführerin Frauke Bennett ihr enormes Wissen über kleine und große Phänomene dieser Landschaft mit uns teilte. Früher war der Gartzer Schrey ein Ausflugsziel für Großstädter*innen aus Stettin oder Berlin, die in Flussdampfern anreisten und sich während ihrer ‚Sommerfrische‘ dort vergnügten. Alte Photographien und Postkarten erinnerten an diese Zeit. Umgeben von wild wachsender Natur fiel es uns trotzdem schwer, zu begreifen, dass dort in den 1920er-Jahren Casinos und Restaurants standen, die bis zu 1000 Personen fassten. Heute kündigt kein Hupen das Eintreffen eines Raddampfers mehr an, doch dafür kann man den Schwarzspecht hämmern hören – was des Wirtschaftsförderers Leid, ist wohl des Ökotouristen Freud.


Tag 3 // 


Der Großraum Szczecin wächst und wird teurer, weshalb es für immer mehr Pol*innen attraktiv wird, auf der westlichen Oderseite in grenznahen Brandenburger Dörfern leerstehende Häuser zu erwerben. Die daraus entstehenden neuen Dorfstrukturen wollten wir uns genauer ansehen, weshalb wir uns in Mescherin mit der polnischen Lokalpolitikerin Marta Szuster trafen. Nur durch persönliches Engagement von Menschen wie ihr wurde das Zusammenwachsen der alten und neuen Nachbar*innen möglich. Das Fazit unserer Gesprächsrunde lautete, dass die Einwohner*innen durch den nachbarschaftlichen Kontakt feststellen, dass sie so unterschiedlich gar nicht sind, wodurch das Label „die Deutschen“ und „die Polen“ im alltäglichen Zusammenleben immer unwichtiger wird. Mit dieser schönen Erkenntnis war der Tag jedoch noch nicht beendet. Ein Workshop-Nachmittag rundete die Reise ab, um in Kleingruppen zu den Themen Migration, Naturschutz und Grenzregionen einzelne Aspekte der Reise vertieft zu diskutieren.

Was haben nun also ein*e Historiker*in, ein*e Kulturwissenschaftler*in und ein*e Naturschützer*in gemeinsam? Ohne Landschaftsbetrachtung läuft nix. Und unsere Studienreise-Teilnehmer*innen wissen nun, dass der Naturraum und die Landschaft des Odertals das Wirtschaften und die Traditionen der dort lebenden Menschen bestimmen und – da sich breite Flüsse hervorragend als Handelswege, aber ebenso als Grenzen eignen – davon auch der Lauf der Geschichte beeinflusst wird. Bleibt noch zu sagen, dass sich das Format der interdisziplinären Studienreise bewährt hat, weshalb in nicht allzu ferner Zukunft wohl ein entsprechendes Angebot im Modulkatalog der HNEE auftauchen wird.

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