Gemeinschaftlich eine Gärtnerei führen – wie sieht das in der Praxis aus?
- Iruna Müller
- vor 4 Tagen
- 3 Min. Lesezeit
Ich liebe es, zu wissen, wo mein Gemüse herkommt. Wenn ich es direkt vom Melchhof abhole, erlebe ich, auf welchen Beeten es gewachsen ist und wessen Hände sich liebevoll darum gekümmert haben. Es ist frisch, hat Bio-Qualität und kommt aus lebendigem Boden; das macht Freude beim Essen.

Ich denke an brennend heiße, klirrend kalte und strömend nasse Tage an die Menschen, die in der Gärtnerei auf dem Feld stehen und alles geben. Die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft können körperlich belastend sein, dazu kommt für die Betriebsführung die mentale Belastung, den Betrieb am Laufen zu halten, und in der Anbausaison sind die Tage lang und die Freizeit knapp.
Der Melchhof begegnet diesen Herausforderungen mit vereinten Kräften: Der Betrieb wird gemeinschaftlich geführt. Ein vierköpfiges Team teilt sich seit 2024 die Schwierigkeiten und Freuden der Betriebsführung. Sie unterstützen einander mental, können einander vertreten und Pausen ermöglichen und bringen unterschiedliche Kompetenzen und Erfahrungen zusammen. Doch wie ist es möglich, zu viert effektiv Entscheidungen zu fällen und Aufgaben zu teilen, ohne dass Chaos entsteht?
Gewusst wie - Methoden
Gemeinschaftliche Betriebsführung sollte bewusst gestaltet werden, um Konflikten, Machtkämpfen und Missverständnissen vorzubeugen. Dafür haben geniale Köpfe passende Methoden erdacht, zum Beispiel den Gemeinschaftskompass von Eva Stützel, die Organisationsform Soziokratie, Methodensammlungen von 9spaces oder dwarfs and Giants.
Einen Einblick in die Werkzeugkisten der Organisationsentwicklung durften 20 Studierende aus zehn Studiengängen im Modul “Teampreneurship” erhalten. Dr. Marianne Nobelmann begeisterte uns mit ihrem einzigartig lebendigen Präsentationsstil und vielen praktischen Übungen zum Thema.
Funktionen von Führung auf dem Melchhof
Im Rahmen des Moduls unternahmen wir als Zweierteam eine “Lernexpedition” auf den Melchhof. Dort lernten wir auf einer Hofführung und in einem Interview mit Tarek aus dem Führungsteam das Organisationsmodell kennen. Der Melchhof orientiert sich in seiner Organisationsstruktur am WirGarten-Handbuch, einer empfehlenswerten Ressource zur Führung von Gärtnereien, erarbeitet von einer SoLaWi in Lüneburg. Das Führungsmodell funktioniert, weil es die vielfältigen Funktionen von Führung adressiert. Nach dem Modell der entfalteten Organisation (Breidenbach & Rollow, 2019) gibt es diese fünf: Orientierung, Entscheidung, Reflexion, Konfliktbearbeitung und Sicherheit. Wie sie auf dem Melchhof gelebt werden, haben wir unter die Lupe genommen.
Das Organisationsmodell ist die “rollenbasierte Hierarchie”. Das bedeutet, dass die Aufgaben in der Gärtnerei in Rollen strukturiert werden, die die Zuständigkeit für einen Bereich klar einer Person zuordnen – aber auch weitergegeben werden können. So kann Verantwortung auf viele Menschen verteilt werden, die jeweils in ihrem Bereich andere führen. Andere können sich vertrauensvoll von der Rolleninhaberin führen lassen.
Die Rollenstruktur ist in einem Handbuch einsehbar, das für Transparenz und Orientierung sorgt.
Rollenübergreifende Entscheidungen werden vom Kernteam, also der Geschäftsführung, gemeinsam im Konsent getroffen. Der Konsent ist eine Entscheidungsform, bei der alle Bedenken zum Thema angehört werden und die Entscheidung angepasst wird, bis alle Beteiligten bei der Lösung mitgehen können – und keine schwerwiegenden Bedenken mehr haben. In den Wochenbesprechungen können die Mitarbeitenden Feedback zu Entscheidungen des Führungsteams geben. Sie wählen sodann ihre Aufgaben und führen sich selbst, wenn sie diese verantwortungsvoll erfüllen.
Am Ende jeder Saison reflektieren alle Teammitglieder gemeinsam ihre Fehler, Erfolge und die Zusammenarbeit. Außerdem hat in der Mitte der Saison jedes Teammitglied die Gelegenheit, mit dem Kernteam zu reflektieren, was läuft und was nicht.
Wenn Konflikte aufkommen, gibt es eine Ansprechpartnerin (definiert durch eine Rolle), die unterstützt, um Raum für klärende Gespräche mithilfe ausgewählter Methoden zu schaffen. Diese erleichtern es, die persönlichen Grenzen und Bedürfnisse aller zu schützen. Wenn das geschieht, kann auf der Basis von Sicherheit und Vertrauen miteinander gearbeitet werden.
Das Team des Melchhofs ist sehr zufrieden mit dem gemeinschaftlichen Führungsmodell – und das ist spürbar an der guten Arbeitsatmosphäre. Tarek sagt: “Das empfinde ich als eine große Leistung, dass wir es geschafft haben, dass die Leute jetzt wieder so sagen: Ah, es ist schön, hier zu arbeiten, es macht Spaß. Also das ist ja das Wichtigste, ne, also das ist für mich viel wichtiger als alles Andere.”
Von dieser Zufriedenheit lebt der Betrieb - die bis zu 10 Teammitglieder, neun Hektar Boden und alle Kunden, die die Säfte und das Gemüse lieben.

Diese “Lernexpedition” ist nur ein kleiner Einblick in das Modul “Teampreneurship” – über weitere Facetten haben wir in früheren Beiträgen bereits berichtet. Wenn du weitere Einblicke in das Modul erhalten möchtest, findest du hier unsere bisherigen Beiträge:
Quellen
Breidenbach, J., & Rollow, B. (with Powers, S., & Leal, N.). (2019). New work needs inner work: A handbook for companies on the way to self-organisation (V. Breidenbach, Übers.; Second edition). Verlag Franz Vahlen. https://doi.org/10.15358/9783800661404
WirGarten e.V. (2024). WirGarten-Handbuch: Betriebsführung einer Gärtnerei. Ein Praxisleitfaden mit Schwerpunkt auf Solidarische Landwirtschaft und Genossenschaft. https://www.wirgarten.com/
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